Da steht er nun vor der Marienkirche, eingerahmt vom Fernsehturm und dem Neptunbrunnen, eingebettet in den lärmenden Verkehr der Großstadt, be- und missachtet von den vorbeiziehenden Passanten, aber immer noch energisch und kraftvoll streckt er uns die Bibel entgegen. Es ist die Aufforderung des Reformators, sich seinen Ideen nicht zu verschließen, das Ambivalente, das Antithetische des Denkens auch als Chance zur Auseinandersetzung zu begreifen. Unterricht am anderen Ort sollte es werden, es wurde vor allem ein Dialog, ein Zwiegespräch zwischen einem Denkmal und denen, die es analysieren. 90 Minuten verbrachten die Schüler*innen des Profilkurses Geschichte vor dem Lutherdenkmal an der Marienkirche, um es zu analysieren, zu hinterfragen und über die Zukunft des Denkmals an jenem Ort zu diskutieren.
Den Lernenden fiel auf, dass Martin Luther mittlerweile allein an jenem Standort weilt, da die ursprüngliche Denkmalanlage (errichtet 1895) den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt hat. So wurden die Denkmäler von Philipp Melanchthon und Co für die Rüstungsindustrie eingeschmolzen. Auch das Lutherdenkmal selbst ist übersäht mit Einschusslöchern und Spuren von Granatensplittern. So erlebten die Schüler*innen, dass jenes Monument nicht nur die Geschichte der Reformation transportiert, sondern es gleichsam ein Spiegelbild der verschiedenen Epochen darstellt. Dass die Errichtung eines neuen Denkmalensembles angedacht ist, wurde ebenfalls mit Neugierde diskutiert. So sollen die Worte Dietrich Bonhoeffers den Rahmen für den neuen Erinnerungsort bilden. „Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.“ Diese von Bonhoeffer in der Gefangenschaft verfassten Gedanken definieren den Ort neu, bieten neue Impulse für eine kritische Auseinandersetzung mit Martin Luther. Dass am 13.04.1964 der amerikanische Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King in der gegenüberliegenden Marienkirche inmitten des Kalten Krieges predigte, lässt erahnen, welches erinnerungskulturelle Potenzial sich an jenem Ort verbirgt. Luther der fromme Rebell – Dietrich Bonhoeffer der tapfere Widerstandskämpfer und Martin Luther King der unerschrockene Bürgerrechtler – an diesem Platz vor der Marienkirche könnten sie aufeinandertreffen. Und so geriet der Besuch des Lutherdenkmals zu einer Spurensuche, zu einer nachhaltigen und multiperspektivischen Begegnung mit der Geschichte.
[R.E.]
„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.“
(Dietrich Bonhoeffer/ Quelle: https://www.luther2017.de/reformation/und-gesellschaft/muendigkeit-
freiheit/dietrich-bonhoeffer-stationen-der-freiheit/index.html, Zugriff am 19.05.2019.)